Grabesstimmung zum 50. Geburtstag
 
 
Freitagfrueh, kurz nach 10 Uhr, ist der grosse Ofen in Rothe Erde aus, buchstaeblich und endgueltig.

"Um punkt 10 Uhr wird die letzte Bildroehre hineingeschoben", berichtet Ljubomir "Ricky" Dujkovic. Die letzte von 64 Millionen Fernsehbildroehren, die waehrend exakt eines halben Jahrhunderts von den Baendern gelaufen sind, wird in Kuerze in der Kinderkrebsstation des Klinikums flimmern. Die Belegschaft hat es sich vorbehalten, ihn zu spenden.

Letzte Versammlung:

Dujkovic, der letzte Betriebsratsvorsitzende des Aachener Philips-Bildroehrenwerks, wird seine 34-jaehrige Taetigkeit im traditionsreichen "Industriepark" nicht beenden, ohne jedem einzelnen der verbliebenen rund 700 Kollegen die Hand zu reichen. "Um 14 Uhr kommen wir noch einmal zusammen, um Abschied zu nehmen", sagt er.

Grosse Reden stehen nicht auf dem Programm. "Die Stimmung ist wie bei einer Beerdigung. Wir sind erfuellt von Trauer und Wehmut", erzaehlt der 53-Jaehrige. Auch die ganze Bitterkeit der vergangenen Monate sitzt noch spaerbar tief - seit Anfang Dezember die Schliessung des Werks verkuendet wurde, die Beschaeftigten in Protestzuegen durch die City zogen, zaehe Verhandlungen um Sozialplaene gefaehrt wurden.

Aber:"Alle Kollegen haben bis zur letzten Sekunde bewiesen, dass wir die beste Fertigung in ganz Europa beherrschen", sagt Dujkovic mit zitternder Stimme. "Ich bin ueberzeugt, dass die Herren in den Chefetagen schon bald merken, dass dieses Knowhow und diese Qualitaet an Standorten wie Osteuropa nicht realisierbar sind."

Traurige Ironie des Schicksals auch dies: Haetten die "Global Player" in Hongkong nicht anders entschieden - im Werk Rothe Erde wuerden ausgerechnet an diesem Wochenende wohl statt der Stahltueren die Sektkorken knallen. "Am 2. Mai 1954, vor genau einem halben Jahrhundert, ist die erste Roehre hier produziert worden", weiss Geschaeftsfuehrer Christoph Klaus. "Und trotz aller Auseinandersetzungen haben unsere Leute den Output bis zum Schluss sogar noch verbessert. Ich bin stolz auf diese Mannschaft. Sie hat einen Klasse-Job gemacht."

Rund 100 Leuten steht der schwerste "Job" noch bevor. Bis Juli sollen die Hallen an der Philipsstrasse komplett geleert sein. Die Maschinen werden auseinandergebaut und "abglobalisiert", naemlich an andere Standorte verbracht, nach Osteuropa, Asien, Mittelamerika.

Von 860 Mitarbeitern, die zum Jahreswechsel noch im Werk beschaeftigt waren, sind inzwischen 150 bis 200 in andere Stellen vermittelt worden. Noch einmal 100, glaubt Klaus, koennten bis zum Sommer eine neue Anstellung finden. Doch auch die Uebrigen mindestens rund 560 Noch-Beschaeftigten werden sich bis Ende Mai sicher noch in Rothe Erde blicken lassen - muessen: "Bis dahin bleiben wir mit vier Leuten vor Ort", erklaert Kuno Kaever, Sprecher der Bundesagentur fuer Arbeit in Aachen.

Nicht nur Dujkovic bezweifelt freilich, dass die Profi-Vermittler das Gros jener Kollegen, die aelter sind und/oder kaum qualifiziert, tatsaechlich wieder in Lohn und Brot bringen koennen. Sie werden immerhin vorerst von der Aachener Beschaeftigungsinitiative (ABAG) "aufgefangen" - mit 80 Prozent der Bezuege und der Hoffnung, sich doch noch fuer eine neue Taetigkeit qualifizieren zu koennen.

Die Wut ueber die "Herren in Hongkong" wird Stunden vor der letzten Schicht nur noch manchmal spuerbar. Wenn zum Beispiel Aktenordner aus den oberen Werksetagen im hohen Bogen in die wartenden Container gepfeffert werden. "Man kann die Atmosphaere kaum beschreiben", sagt IG-Metall-Chef Franz-Peter Beckers am Abend. Keine Stimmung fuer wortreiche Rueckblicke und geschliffene Verbalattacken gegen die "Globalisierer".

Nur soviel: "Sie haetten Alternativen gehabt. Ihre Entscheidung war falsch."

Von unserem Redakteur (Aachener Zeitung) Matthias Hinrichs

 
Bild: Manfred Kistermann